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Lernfähige Systeme: Hebt die Corona-Krise die Robotik auf ein neues Level?

Schon vor Corona, spätestens aber jetzt: Warum lernfähige Roboter in Krisenzeiten - und auch danach – eine wichtige Rolle spielen, erklärt ein Robotik-Experte.

Hätte die deutsche Industrie besser vorbereitet sein können, ja, müssen? „Das Corona-Virus und die Corona-Krise greifen genau an der Stelle an, an der digitale, höher automatisierte Produktion operiert", sagt Ronnie Vuine, CEO von Micropsi Industries, einem Berliner Robotik-Startup. Damit ist er in allerbester Gesellschaft – so schreibt Klaus Helmrich, Vorstand von Siemens, in einem LinkedIn-Beitrag: „Der Nutzen von Digitalisierung und Automatisierung für die produzierende Industrie zeigt sich im Angesicht der Pandemie besonders deutlich: Denn automatisierte und digitale Lösungen ermöglichen technologische Innovationen, die sich zielgerichtet gegen die Auswirkungen des Virus einsetzen lassen.“ Für Vuine ist Corona daher auch ein Weckruf: „Seit vielen Jahren redet man über Industrie 4.0 und Digitalisierung. Das galt immer ein bisschen als Zukunftsthema, das konnte man machen, wenn man Zeit hatte und sich damit dann ein wenig schmücken. Jetzt aber sind wir in der Situation, dass alle, die das vernachlässigt haben, sagen, ‚Ohje, hätte ich bloß mal‘…“

Wo steht die Automation in Deutschlands Fabriken?

Höher automatisierte Produktion - die kann vor allem „Kollege" Roboter. Er ist nicht ansteckend, denn „wenn Produktion während einer Pandemie aufrechterhalten werden soll, müssen gewisse Abstände zwischen den Werkern eingehalten werden“, erklärt Patrick Schwarzkopf, Geschäftsführer des VDMA-Fachverbands Robotik + Automation, die Vorzüge der Technologie gerade in der aktuellen Zeit. Zugegeben: Niemand hätte vor der Corona-Pandemie mit einer Gesundheits-Krise dieses Ausmaßes in Deutschland rechnen können. Und gerade kleine oder mittelständische Unternehmen entwickeln sich nicht unter den gleichen wirtschaftlichen Voraussetzungen wie ein Key Player aus der Automobilbranche.

In vielen Fällen habe es zudem schlicht nicht die nötigen Business Cases gegeben, hält Vuine dagegen. „Nicht jeder hat eine halbe Million parat und den Luxus von Planbarkeit über zwölf oder achtzehn Monate hinaus", unter anderem für die Integration einer Automatisierungslösung, weiß der Unternehmer. Folglich mussten erst einmal die Kosten sinken: für die Komponenten und auch das Engineering. Hinzu kommt, dass bei vielen Unternehmen das Know-how für eine sinnvolle Automation der Produktion schlichtweg fehlte – oder immer noch fehlt. Vuine weiß: „Lange galt Automation als teures Experten-Thema, das man an Systemintegratoren outsourcte – und das zurecht: Schließlich wiegen die Folgen einer falschen Systemintegration schwer und können sogar existenzgefährdend sein."

Lernfähige Roboter statt spezialisierter Maschinen

Aber auch für kleinere Unternehmen gibt es Lösungen – ganz ohne speziell auf ihre Produkte zugeschnittenen Maschinenpark: „Sie brauchen flexible Automatisierung, die sich schnell auf neue Situationen einstellen kann", erklärt Vuine. „Und das geht nur, wenn man akzeptiert, dass der Einsatz von Automatisierungstechnik zu einem Großteil den Einsatz von Software bedeutet – denn die lässt sich schnell ändern. Statt mit spezialisierten Maschinen arbeitet man besser mit Robotern, die sich umprogrammieren lassen und die im Idealfall schnell etwas Neues lernen können." So können mit lernfähigen Systemen selbst kleine und mittelständische Unternehmen von der Automatisierung profitieren – auch nach Corona.

Hierzu entwickelt Micropsi Industries Echtzeit-sensorgetriebene Robotersteuerungen, die Roboter lernfähig machen sollen. Die trainierbare Robotersteuerung Mirai unterscheidet sich von konventionellen Robotersystemen in einem wesentlichen Punkt: Der Roboter wird nicht mehr auf seine Fähigkeiten programmiert, sondern von Menschen angelernt. Vuine erklärt: „Das macht man so für zwei, drei Nachmittage, man trainiert den Roboter auf Hand-Auge-koordinierte Fähigkeiten, ähnlich wie beim Sport oder bei einem Instrument durch Vormachen. Das funktioniert, indem der Roboter über eine Kamera, die am Handgelenk oder fest am Montagetisch installiert ist, zuschaut, sich anschließend die neuen Bewegungs-Daten in der Cloud ansieht und dann kann er es."

Vuine erklärt das idealtypische Anwendungsszenario seiner KI-getriebenen Roboter-Automatisierung: „Wir ersetzen die klassische Roboterprogrammierung gar nicht – ob das nun das Schreiben von Codes oder das Zeigen von Posen ist, wie man das jetzt auch schon mit den Cobots macht." Hier gibt es bereits hinreichend vereinfachte Programmier-Interfaces von Kuka, ABB, Fanuc oder auch bei den Cobots von Universal Robots, weiß Vuine und präzisiert: „Große Bewegungen durch den freien Raum, die sind für Roboter relativ leicht zu machen. Spannend wird es immer, wenn sie Kontakt mit der Welt aufnehmen müssen – also zum Beispiel zum Menschen oder zum Werkstück – und sich nicht durch die freie Luft bewegen. Der Klassiker: Sie müssen ein Werkstück aufnehmen und das liegt nicht immer an der gleichen Stelle. Diesen Teil, wo der Roboter darauf reagieren muss, wenn etwas Unvorhersehbares eintritt, da übernehmen lernfähige Robotersysteme, da steuern wir sozusagen jetzt den Roboter."

Wie Roboter über einen Stift lernen

Das Dresdener Robotik-Start-up Wandelbots hat eine neue Lösung zum Anlernen von Robotern entwickelt: Anstatt die Systeme aufwändig zu programmieren, sollen nun auch Laien dem Roboter Aufgaben mit einem drahtlosen Stift, dem sogenannten „TracePen“, unkompliziert und ganz ohne Programmierkenntnisse zuweisen können – ferngesteuert, wo auch immer sich der Anwender befindet. Vor allem in Corona-Zeiten ermöglicht die sogenannte „lights-out-production“, dass kritische Produktionsprozesse vollkommen ohne menschliche Interaktion ablaufen. Der Benutzer führt dabei einfach die Tätigkeit des Entgratens, Inspizierens oder Klebens mit dem Stift in der Hand beispielhaft aus. Die intelligente Software wandelt dann die Bewegungen in Automatisierungsskripte für den Roboter um. Nach eigenen Angaben des Unternehmens löst dies nicht nur das Problem der fehlenden Expertise, sondern senkt auch die Kosten für Unternehmen, da bislang Software alleine 70 Prozent der Lebenszykluskosten eines Roboters ausmache. Die erste Auslieferung der Lösung beginnt im August 2020.

Für Produktionsleiter bedeutet das: Es geht künftig um eine neue Varianz der Automatisierung und um Bewegungen, die bislang noch dem Menschen vorbehalten sind. „Hier ein Stück Plastik andrücken, da ein Kabel herausziehen, alles, was bei der Montage-Arbeit gemacht wird" – und wo man bislang aufwendig vermessen muss, um genau zu wissen, wo etwas ist, bevor der Mensch seinen Roboter so programmieren kann, dass er sich die Messung genau ansieht und erst dann darauf reagieren kann. „Das können Roboter bislang noch nicht", erklärt Vuine. Die Akzeptanz bei den Mitarbeitern ist für ihn keine Herausforderung, sondern die Fähigkeiten der Robotik, den Umgang mit solchen Varianzen in hinreichender Qualität und Prozesssicherheit abzubilden.

Robotik in Krisenzeiten: Aus Corona für künftige Ausnahmesituationen lernen

Was das für die aktuelle Krise und auch für zukünftige Ausnahmesituationen bedeutet, beschreibt Vuine am Beispiel des Schutzmasken-Engpasses: „Wie konnte es sein, dass eine Industrienation wie Deutschland nicht einfach mal kurz die Produktion hochfahren kann für Papiermasken? Das liegt an der Automatisierung! Für Papier braucht man spezielle Maschinen, und die aufzustellen dauert." Um gestärkt aus der wohl größten Krise seit dem 2. Weltkrieg hervorzugehen, hat Vuine einen Tipp: ausprobieren. „Es funktioniert schon jetzt viel öfter so, dass man sich einfach mal einen Roboter kauft und sich einen 20-jährigen Mitarbeiter sucht, der da Lust draufhat. Dann lässt man den mal ein paar Wochen machen und es kommt eine Automatisierungs-Lösung raus. Das gab es in der alten Welt noch nicht, das ist komplett neu."

Micropsi Industries verleiht deshalb in der aktuellen Situation Systeme an Unternehmen, zum Beispiel aus der Metall-, Kunststoff- oder Elektrobranche. „Wir haben gesagt, jetzt ist die Zeit, in der die Leute ein wenig Zeit haben, neu zu denken, weil sie teilweise nicht produzieren können, da das Material nicht kommt und es ist die Zeit, in der Leute nachdenken über den nächsten Zyklus ihrer Fertigung und darüber, wie sie künftig Geld sparen und ihre Fertigung robuster machen können, für das, was noch kommt.“ Ist dann das Bewusstsein für ein Leben mit Veränderung und den damit einhergehenden Anforderungen an Flexibilität in der Produktion erst einmal geschärft, sind Supply Chains auf lange Zeit auch wieder sicherer.