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Praxisrelevanz von Zukunftstechnologien

In der automatisierten Produktion heben intelligente Assistenzsysteme die Mensch-Technik-Interaktion auf ein höheres Niveau. Institutsdirektor Dr. Matthias Peissner vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO bewertet Zukunftstechnologien für den Arbeitsplatz 4.0 auf ihre Praxisrelevanz.

Wie sieht aus Ihrer Sicht der digitale Arbeitsplatz der Zukunft, der „Arbeitsplatz 4.0“, aus? Und was unterscheidet ihn von aktuellen Arbeitsplätzen?

Peissner: Es gibt nicht den einen intelligenten Arbeitsplatz. Die Idee der Smart Factory basiert auf der intelligenten Vernetzung von Menschen und Maschinen. Dieses Industrie-4.0-Szenario ermöglicht auch neue Formen der Mensch-Maschine-Interaktion. Generell kristallisieren sich Einsatzfelder für digitale Assistenzsysteme und ihr Design heraus, indem das Wechselspiel von Prozessen und Belegschaft analysiert wird. Wir verfolgen am IAO das Ziel, die Mensch-Technik-Interaktion natürlicher und beiläufiger zu machen.

Was bedeutet das konkret?

Peissner: Der Mitarbeitende konzentriert sich auf die inhaltlich technische Aufgabe, die Interaktion mit dem System läuft einfach mit. Für die Gestaltung intelligenter Assistenzsysteme gibt es einen Baukasten mit Technologien wie Multi-Touch-Erkennung, Smart Watches, Headsets für das Stimm-Interface oder Head-Mounted Displays für Augmented Reality, hier wird das Bild der realen Welt durch digitale Informationen überlagert. Viele Assistenzsysteme werden zudem erst durch Künstliche Intelligenz möglich. So sind Methoden des maschinellen Lernens die Basis für Systeme zur Entscheidungsunterstützung und auch für viele Erkennungstechnologien.

Mensch-Technik-Interaktion am Arbeitsplatz 4.0: Steuerung wie am Smartphone

Sie wollen die Mensch-Technik-Interaktion natürlicher und beiläufiger machen. Gehört dazu auch das Wischen und die Gesten- und Sprachsteuerung, wie wir sie vom Smartphone kennen?

Peissner: Auf jeden Fall. Fraunhofer hat beispielsweise mit BMW das System „Documation“ für die Qualitätssicherung entwickelt, das die Dokumentation bei der Inspektion lackierter Oberflächen erleichtert. Ist das Prüfteil in Ordnung, wischt der Prüfer von links nach rechts darüber. Zeigt er mit dem Finger auf einen Lackfehler, wird seine Geste automatisch erkannt und die Position auf dem Stoßfänger in das System aufgenommen. Per Sprache lässt sich zusätzlich eine Information hinzuzufügen. In der Praxis spart dies viel Zeit. Die Akzeptanz ist hoch, weil die Dokumentation leichter wird, zudem steigt die Anzahl der sauber dokumentierten Fälle.

Neben den Alltagstechnologien wie Wischen und Sprache: Experimentiert Ihr Forschungsbereich für den Arbeitsplatz 4.0 auch mit ganz futuristischen Konzepten?

Peissner: Ein spektakuläres Beispiel ist sicher unser Brain Computer Interface für die Produktion, das auf der Elektroenzephalographie oder EEG basiert, also der Messung der elektrischen Aktivitäten des Gehirns. Damit lassen sich mentale Zustände für die Interaktion nutzen. Werden einem Benutzer in der Qualitätsprüfung Werkstücke auf einem Förderband präsentiert und seine EEG-Signale gemessen, so kann er über das Brain Computer Interface fehlerhafte Werkstücke automatisch aussortieren.

Arbeitsplatz 4.0-Assistenzsysteme – auch für „Blue Collar Worker“ eine Erleichterung

Sie sagten: Viele Assistenzsysteme werden erst durch Künstliche Intelligenz ermöglicht. Welche Art von Hilfssystemen sind beispielsweise für Niedrigqualifizierte relevant?

Peissner: Systeme für die Anleitung, Fehlervermeidung und Befähigung sind für Niedrigqualifizierte besonders relevant. Diese können kontextsensitiv Prozesse Schritt für Schritt vorgeben und liefern bei fehlerhaft ausgeführten Handgriffen Feedback für ein Nachjustieren. Assistenzsysteme können auch Arbeitsschritte natürlich und intuitiv gestalten. Beispiele sind die gestengesteuerte Roboterprogrammierung oder die Befähigung eines Mitarbeitenden, seine Werkzeuge selbst einzurichten.

In welchen Einsatzszenarien lohnt sich ein solches System?

Peissner: Ein Fraunhofer-Exponat für die Zukunft der Zusammenarbeit mit Robotern skizziert sehr gut unsere Vision. Robotereinsatz rentiert sich heute primär in der Massenproduktion, denn das Einrichten von Robotersystemen ist zeitaufwendig und erfordert ausgewiesene Expertise für die Programmierung. Wir befähigen mit der gestenbasierten Mensch-Roboter-Schnittstelle Insitu die Blue Collar Worker, also die Menschen in der Fertigungslinie, ein Roboterprogramm anzufertigen oder auf die aktuelle Situation anzupassen. Dabei machen sie bestimmte Parameter des Programms durch Gesten vor, die von performanten und preiswerten 3D- und Farbkameras aufgenommen und von einem System interpretiert werden.

Wie kann ein Assistenzsystem in der Fertigungslinie anleiten und was ist die Herausforderung bei der Gestaltung?

Peissner: In einem aktuellen Projekt mit einem großen Automobilzulieferer haben wir ein System im Piloteinsatz, das in einer halbautomatisierten Fertigungslinie einen Mitarbeitenden unterstützt, der mehrere Maschinen betreut. Bisher ist er – je nach laufendem Prozess – auf Basis seines Erfahrungswissens von Maschine zu Maschine gewechselt, um Material nachzulegen, ein Teilprogramm zu starten oder einen Fehler zu beheben. Unser Algorithmus berechnet nun aufgrund der aktuellen Maschinen- und Sensordaten optimale Arbeitsabläufe – der Mitarbeitende bekommt per LED-Streifen am Boden, über eine Smartwatch oder ein großes Anzeigesystem in der Halle den Hinweis, wo er als nächstes gefragt ist, um den Ablauf zu optimieren.

Fühlt sich der Mitarbeiter da nicht bevormundet?

Peissner: Die Herausforderung ist, den Mitarbeiter durch solche KI-basierten Systeme nicht zu gängeln – er soll das Gefühl haben, unterstützt zu werden, um aus seiner Arbeitskraft das Beste zu machen. Sonst sind Frustration, Stress, Müdigkeit, Überbelastung und Krankheit vorprogrammiert. Nur eine menschengerechte Assistenz und Automatisierung haben Zukunft.

Effizientere Prozesse durch Assistenzsysteme in der Smart Factory

Welche Unterstützung können Assistenzsysteme am Arbeitsplatz 4.0 dem höher qualifizierten Facharbeiter wie etwa dem Instandhaltungsingenieur bieten?

Peissner: Hier geht es zum Beispiel um das Lösen komplexer Probleme oder die Suche von Fehlerursachen. Die unterstützt etwa ein Chatbot, also ein Dialogsystem, das bei einem Problem strukturiert abfragt und den Suchraum einschränkt. Dabei lassen sich die Medien, die Informationen aus dem Wissensmanagement anzeigen, bedarfsabhängig auswählen – also etwa Tablet, Smartphone, Smart Glasses oder AR-System. Bei Fraunhofer gibt es auch einen Demonstrator, der Maschinenstörungen automatisiert in Aufgaben für entsprechend geschultes Instandhaltungspersonal überführt. So landet ein Problem immer nur im Cockpit derjenigen Experten, die die dafür notwendigen Kompetenzen und Erfahrungen besitzen.

Und wie wird im Industrie 4.0-Kontext einem Verantwortlichen für den Gesamtprozess geholfen?

Peissner: Ein Schichtleiter erhält Entscheidungsunterstützung. Er will wissen, wie Prozessparameter im Sinne der Effizienz zu justieren sind – soll es in Richtung Qualität oder Geschwindigkeit gehen? Für solche Systeme sind digitale Modelle der Prozesse erforderlich, die eine realitätsgetreue Abbildung des Produktionsgeschehens darstellen. Sie liegen leider in der Praxis noch selten vollständig vor. Aber wenn, dann kann ich mit Parametern für einen neuen Auftrag etwa den Energieverbrauch oder die Ergebnisqualität der Produktion durchspielen. Das Ergebnis sind Hinweise auf Basis von aktuellen Prozessparametern und Forecasts für die Optimierung der Parameter im Sinne der aktuellen Anforderungen. Damit können die Mitarbeitenden auch dann Entscheidungen kompetent treffen, wenn sie nicht den absoluten Überblick besitzen.

Diese fünf Trends für den Arbeitsplatz 4.0 sollte man im Auge behalten

Die Auswahl und Gestaltung des passenden intelligenten Assistenzsystems ist stark arbeitsplatzabhängig. Dr.-Ing. Matthias Peissner, Institutsdirektor und Leiter des Forschungsbereichs Mensch-Technik-Interaktion am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, rät, fünf Trends und Technologien im Auge zu behalten:

  • Mit der Bildverarbeitung werden Objekte in der Produktion identifiziert und ihre Lagerichtung erkannt. „Damit lassen sich etwa Qualitätssicherungsaufgaben automatisieren – wir sehen, ob das richtige Teil verwendet wird.“
  • Akustische Analysen können Unregelmäßigkeiten von Betriebsgeräuschen detektieren. „Sie eignen sich unter anderem für die Zustandsüberwachung von Maschinen.“
  • Mixed Reality-Technologien haben Potenzial im Prototyping oder der Wartung. „Die Instandhaltung wird beispielsweise durch die Überlagerung von realen und virtuellen Daten durch die Augmented Reality erleichtert.“
  • Chatbots sind technische Dialogsysteme, mit denen per Texteingabe oder Sprache kommuniziert wird. „Ein Instandhalter kann per Chatbot elegant mit einem Expertensystem interagieren, Probleme analysieren oder komplexe Prüfaufgaben in geleitetem Stil abarbeiten.“
  • Bei der Entscheidungsunterstützung auf Prozessebene kommen Methoden aus dem Machine Learning zum Einsatz.