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Überschätzter Hype oder das nächste ganz große Ding? Noch sind die Meinungen gespalten über das Industrial Metaverse. Aber eines zeigt sich bereits heute: Die aufkommende Technologie wird alle Industriebereiche revolutionieren. Da darf man gespannt sein, wie viel Metaverse die Aussteller auf der kommenden automatica präsentieren werden.

Heute Abend mal entspannt durch Rom bummeln – ohne Reiseaufwand und CO2-neutral? Oder auf fremden Planeten neue Zivilisationen kennenlernen? Das geht ganz einfach– mit PC und VR-Brille. Und so faszinierend diese Möglichkeiten sind – die Plattform dafür, das Metaversum oder Metaverse steht erst am Anfang. Das gilt nicht nur für Tourismus und Zeitreisen. Gerade der Industrie bietet das Industrial Metaverse beeindruckende Möglichkeiten – angefangen von der Planung und Realisierung ganzer Fabriken bis hin zum laufenden Betrieb.

Noch herrscht allerdings Zurückhaltung bei den potenziellen Anwendern, wie eine Umfrage des Digitalverbands BITKOM zeigt: Jedes dritte Unternehmen hält das Metaverse für eine wichtige Zukunftstechnologie, aber erst jedes achte hat sich mit dem praktischen Einsatz beschäftigt. Das heißt: Hier ist Handlungsbedarf. Bitkom-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder: „Wait and see ist keine Strategie. Deutsche Unternehmen sollten mögliche Einsatzfelder prüfen und die weitere technologische Entwicklung eng verfolgen.“

Gelegenheit dazu bietet ein gezielter Rundgang auf der automatica 2025. Er sollte die Zuversicht wecken, dass das Industrial Metaverse durchaus das „next big thing“ sein könnte. Die Vorteile sind einfach zu groß. Wie groß zeigt ein fiktives Szenario.

Wenn der digitale Zwilling lebendig wird

In der Verpackungslinie 8 des Keksherstellers Meico meldet ein Palettierroboter Probleme. Die Meldung geht an den Systemintegrator Induverse, der die Linie entwickelt hat. Dort setzt ein Projektingenieur die VR-/AR-Brille auf und betritt mit seinem Avatar im virtuellen Raum den digitalen Zwilling, der den Echtzeit-Zustand der Anlage im Metaverse abbildet.

Dieser Zwilling zeigt also nicht, wie bisher, die aktuelle Dokumentation der Anlage, sondern das Abbild der „live“-Anlage selbst. Der Avatar des Ingenieurs kann sich von Station zu Station bewegen, den Roboter von allen Seiten ohne Rücksicht auf Gefahrenbereiche inspizieren und zugleich über seine VR-/ AR-Brille alle relevanten Echtzeit-Daten und Messwerte einsehen – vom Energieverbrauch bis zur Umgebungstemperatur. So fällt die Ursachenforschung leicht und vor allem geht sie ganz schnell.

Metaverse goes Industry – von Anfang an

So oder ähnlich könnte die Zukunft aussehen. Aber: Was in der Praxis so einfach und praktisch erscheint, erfordert intensive Vorarbeit. Das Industrial Metaverse funktioniert nur, wenn alle Komponenten erstens einen digitalen Zwilling besitzen und zweitens miteinander über standardisierte Datenmodelle kommunizieren können. Das bedeutet: Die Anlage muss von Beginn an „Metaverse-ready“ konstruiert werden – auf einer Plattform, die allen Beteiligten zugänglich ist.

Eben da fangen die Vorteile schon an. Denn alle, die an der Projektierung und Konstruktion der automatisierten Anlage beteiligt sind – und das sind viele – arbeiten nicht nur am, sondern buchstäblich im selben Datenmodell. Das beschleunigt die Entwicklung und den Bau der Anlage ganz erheblich, und Fehler durch mangelnde Abstimmung sind nahezu ausgeschlossen.

Produzieren, bevor die Anlage gebaut wird

Mehr noch: Bereits bevor die Anlage gebaut ist, kann sie schon virtuell betrieben werden und als fotorealistischer digitaler Zwilling genau die Ergebnisse des noch nicht existenten realen Zwillings liefern. Das klingt „spooky“, aber es funktioniert und verringert den Aufwand nicht nur für Abnahmen und Inbetriebnahmen deutlich. Und die Vorteile setzen sich über den gesamten Lebenszyklus der Anlage fort. Deshalb ist der digitale Zwilling die Schlüsseltechnologie für das Industrial Metaverse.

Soweit die Theorie. Und: Es gibt schon Praxisbeispiele für die Umsetzung – zum Beispiel die Digital Native Factory von Siemens in Nanjing. Sie wurde von Beginn an mit digitalen Technologien geplant und mit einem digitalen Zwilling simuliert. So konnten Planungsfehler, die es bei solchen Projekten immer gibt und die viel Geld und Zeit kosten können, erkannt und vermieden werden.

Jetzt, im Betrieb, erreicht die Fabrik eine – im Vergleich zu einer konventionellen Anlage – rund doppelt so hohe Produktionskapazität. Der digitale Zwilling arbeitet immer mit, nimmt die Daten auf und analysiert sie. Um das zu ermöglichen, muss selbst ein Technologiekonzern wie Siemens mit Partnern wie dem führenden KI-Spezialisten Nvidia zusammenarbeiten. Für die Kunden, die auf ihrem Weg ins Industrial Metaverse die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit nutzen möchten, hat Siemens die Xcelerator-Plattform entwickelt.

© Siemens
Die Digital Native Factory in Nanjing wurde komplett digital geplant und simuliert, so dass sie auch in der digitalen Welt optimiert werden konnte, bevor sie tatsächlich gebaut wurde.

Komponentenhersteller fokussieren auf das Metaverse

Beim Sensorhersteller und automatica-Aussteller Sick ist das Industrial Metaverse ebenfalls ein zentrales Zukunftsthema. Das Unternehmen hat bereits echte virtuelle Abbilder für mehrere Sensormodelle entwickelt und auf der Omniverse-Plattform von Nvidia veröffentlicht. Auf dieser Plattform können die Sensoren mit einem „Robotic Simulation Kit“ in physikalischer 3D-Simulation getestet werden.

Schunk, der Spezialist für Greif- und Spanntechnik, hat einen fünfstufigen Prozess definiert, mit dem digitale Zwillinge zum Leben erweckt werden und dann ins Metaversum „einziehen“. Dabei ist das Unternehmen schon gut vorangekommen. Timo Gessmann, CTO von Schunk: „Wir haben eine komplette Roboterzelle im Metaverse entwickelt, die sich genauso verhält, wie wir sie in der physischen Welt aufgebaut haben.“ Damit hat man modellhaft erstmals einen durchgängigen Digital-Engineering-Prozess verwirklicht, der sämtliche Schritte nicht nur der Produktentwicklung, sondern des gesamten Produktlebenszyklus im Metaverse abbildet.

Ziel: Den Mittelstand in die Virtuelle Realität mitnehmen

Jetzt kommt es darauf an, alle ins Metaverse mitzunehmen. Dazu Marco Thull, Head of Marketing bei igus: „Es ist in dieser Phase von entscheidender Bedeutung, auch KMU mit begrenzten Budgets und Know-how abzuholen, damit sie den Anschluss an die Zukunftstechnologie nicht verpassen.“ Das „iguverse“ soll dabei helfen, Produkte schneller, effizienter und nachhaltiger zu konstruieren. Auch Nutzer ohne technische Vorkenntnisse können einsteigen. Auf Wunsch übernimmt igus sogar die Realisierung der Digitalen Zwillinge von Produkten für den virtuellen Raum. Das gilt auch für Arbeitsstationen mit den RBTX Low-cost-Robotern, die igus auf der automatica zeigen wird.

Auf der Messe wird man erleben können, wie weit die „Automatisierer“ beim Weg ins Industrial Metaverse gekommen sind. Wer erste Schritte in diese Richtung gehen will, sollte sich auch auf neue Geschäftsmodelle einstellen. Denn: Das Industrial Metaverse bedingt die Kollaboration. „Die virtuelle Welt wird nicht von einem einzigen Unternehmen oder einigen wenigen Partnern aufgebaut. Offenheit und Interoperabilität sind die Grundvoraussetzungen für den Aufbau des industriellen Metaverse“, so Timo Gessmann.

Die automatica bietet die Gelegenheit, Partner für diesen Weg zu finden. Und zwar, ganz altmodisch, in Präsenz, ohne Avatare und digitale Zwillinge. So groß die Vorteile des Industrial Metaverse bei der Entwicklung und beim Betrieb von Maschinen und ganzer Fabriken auch sind – bei Industriemessen hat sich das virtuelle Miteinander nicht bewährt. Die Community trifft sich lieber „live“.


Text: Ralf Högel für Messe München