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Der Weg zur autonomen Produktion

Eine vollständig selbständig arbeitende Fabrik, die zuverlässig und ohne menschliche Mithilfe hochindividualisierte Produkte in ständig wechselnden, aber kleinen Losgrößen herstellt, Tag und Nacht durch, mit hohen Taktzeiten und zu deutlich niedrigeren Stückkosten als bisher - das ist die Vision einer autonomen Produktion. Wie nah ist die Industrie dieser Vision? Und welche Rolle wird der Mensch dabei spielen?

Der Unterschied: autonom vs. automatisiert

Die autonome Produktion geht einen Schritt weiter als stark automatisierte Prozesse: Hier soll das System unvorhergesehene Situationen erkennen, beurteilen und selbstständig eine sinnvolle Entscheidung treffen können. Menschliches Eingreifen soll über längere Zeiträume nicht nötig sein. Autonome Produktionssysteme sind also in der Lage, die Fertigung selbst zu planen und zu steuern.

Automatisierte Abläufe ähneln dagegen eher einem Reflex: Klopft der Arzt mit dem Hämmerchen auf die Kniesehne, zuckt das Bein nach vorne. So ist es auch bei automatisierten Vorgängen. Sie sind als „Wenn, dann…“-Logik konstruiert. Liefert ein Sensor einen vorher definierten Wert, wird ein bestimmter Aktor eine vorab passend dazu definierte Aktion ausführen. Das ist im Grunde eine zeitlich vorweggenommene Fernsteuerung, die eine Reihe festgelegter Szenarien abdeckt.

Wer braucht autonome Produktion und warum?

Autonome Produktion rückt dann in den Fokus, wenn das System so groß und komplex geworden ist, dass unmöglich alle relevanten Konstellationen gedanklich vorweggenommen und automatisiert werden können. In einer „Smart Factory“ müssen Logistiksysteme und automatisierte Fertigungsanlagen sowie cyber-physische Systeme organisiert werden. Das beinhaltet fahrerlose Transportsysteme, lernende Maschinen, Sensoren, Kameras, Drohnen und nicht zuletzt die IT-Systeme, die alle Prozesse steuern. Alle diese Einheiten sind, soll der Prozess autonom ablaufen, umfassend untereinander vernetzt, selbstlernend und situationsadaptiv. Sie arbeiten vorausschauend. So kann eine vollkommen auftragsgesteuerte Produktion erreicht werden.

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KI und maschinelles Lernen

KI ist der Oberbegriff für Algorithmen, die intelligente Entscheidungen ermöglichen. Die modernste Ausprägung der KI nutzt neuronale Netzwerke, um selbstlernende Systeme für das maschinelle Lernen zu entwickeln. Das maschinelle Lernen ist die Schlüsseltechnologie der KI und hat seinen Ursprung in der Bildverarbeitung zur Qualitätskontrolle, wo es darum geht, Muster zu erkennen, um Abweichungen als solche identifizieren zu können. Durch maschinelles Lernen erweitern

technische Systeme ihre Einsatzmöglichkeiten selbst, indem sie eigenständig neue Modelle entwickeln. Die sogenannte „schwache KI“ kann nur genau die Aufgaben lösen, für die sie entwickelt und trainiert wurde. Die „starke KI“ ist dem menschlichen Verstand ähnlich, kann also Transferleistungen erbringen und strategisch Planen. KI wird in der industriellen Produktion insbesondere in der Prozessüberwachung, Prozesssteuerung und vorbeugenden Wartung eingesetzt. Es gibt heute bereits Produkte auf Basis von KI, die in der Lage sind, bis zu 95 Prozent der maschinenbedingten Produktionsausfälle vorherzusagen.

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Bild- und Sensordatenverarbeitung

Genau wie das Sammeln und Verarbeiten aller anderen Sensordaten gehört eine hochentwickelte Bildverarbeitung zwingend zu den Voraussetzungen für eine autonome Produktion. Je mehr qualitativ hochwertige oder annotierte, also um strukturierte Zusatzinformationen ergänzte, Daten aus dem Produktionsprozess zur Verwertung vorliegen, desto präziser können KI-Entscheidungen getroffen werden.

Simulationen, beispielsweise für Losgröße 1

Im Gegensatz zur Serienproduktion, bei der Prozesse unter Verwendung vorangegangener Prozessdaten überwacht werden, kann bei Losgröße 1 nicht auf existierende Messwerte zurückgegriffen werden. Will man aber auch das erste und einzige Exemplar überwachen können, müssen softwaregesteuerte Prozesssimulationen hierfür Referenzwerte bestimmen. Das wiederum erfordert eine durchgängige Verbindung zwischen der leistungsfähigen IT des Unternehmens und der Fertigungsebene.

Durchgängige Vernetzung und dezentrale Systeme

Alle am Prozess beteiligten Akteure müssen miteinander vernetzt sein, also entlang der gesamten Kette von Auftragseingang über Fertigung bis Auslieferung. Gleichzeitig lassen sich Produktionsentscheidungen in Echtzeit nur treffen, wenn beispielsweise die Steuerung eines Roboters in eigenen, dezentralen Rechenkapazitäten möglich ist.

Roboter und Autonome Transportsysteme

Transport und Handhabung von Teilen, also die „Basics“ einer Produktion, können in der Regel von Maschinen übernommen werden. Aktuell wird an Entwicklungen in den Bereichen Simultanes Lokalisieren und Mapping (SLAM), Roboterwahrnehmung, Planung und Regelung, Simulation oder Mehr-Roboter-Koordination gearbeitet.

Wo steht die autonome Produktion heute?

Noch gibt es zahlreiche Herausforderungen auf dem Weg, eine autonome Produktion flächendeckend zu installieren.

Daten in ausreichender Menge und Qualität

Eine Herausforderung ist die Verfügbarkeit und Qualität von Daten, die für KI und Machine-Learning (ML) benötigt werden. Autonome Systeme benötigen einen qualitativ hochwertigen Datenpool, auf dessen Basis dann die Systeme trainiert werden, so dass sie im Betrieb Anomalien schnell und einfach identifizieren können. Ein Problem für Betreiber ist aber oft, dass Anlagen Unikate sind, es also keine übergreifenden Datenpools von weiteren Anlagen gibt.

Komponenten- und Systemlieferanten sind daran interessiert, weltweit möglichst viele Daten von ihren bei Kunden eingesetzten Produkten zu bekommen. Hier erschwert jedoch oftmals Misstrauen und das Argument des Know-how-Schutzes ein unternehmensübergreifendes Daten-Pooling. Einerseits sind also Daten in ausreichender Qualität für die Entwicklung und das Training der KI nötig, andererseits muss die Datensouveränität der Anwender berücksichtigt werden. Dieser aktuell noch nicht vollständig gelöste Widerspruch hemmt die schnelle Entwicklung von KI-Anwendungen.

Maschinenkommunikation in Echtzeit: 5G als Voraussetzung

In der Fabrik der Zukunft interagieren Sensoren, Maschinen, Geräte und IT-Systeme miteinander und tauschen dazu eine Vielzahl von Daten und Informationen aus. Der Mobilfunkstandard 5G verzehnfacht die Datenübertragungsrate im Mobilfunknetz auf mehr als zehn Gigabit pro Sekunde. Durch erheblich niedrigere Latenzzeiten ermöglicht das Maschinenkommunikation in Echtzeit – eine Voraussetzung für die Koordination von Maschinen und Abläufen in der Fabrikautomation.

Dr. Andreas Müller, Vorsitzender der Initiative „5G Alliance for Connected Industries and Automation“ (5G-ACIA) meint dazu: "Zwingend notwendig ist eine leistungsfähige drahtlose Kommunikation beispielsweise für die Vernetzung von mobilen Endgeräten. Hierzu gehören neben fahrerlosen Transportsystemen und mobilen Robotern auch mobile Bediengeräte und neue Mensch-Maschine-Schnittstellen, wie zum Beispiel Anwendungen der erweiterten Realität. Zudem ermöglicht 5G aber auch ganz neue Fertigungskonzepte mittels drahtlos vernetzter, hochflexibler Produktionsmodule, die ohne Verkabelungsaufwand einfach miteinander kombiniert werden können.“

Schwierig wird der Einsatz von Maschine-Learning, wenn hohe Anforderungen an die Fehlerfreiheit gestellt werden. Das ist beispielsweise bei der Prüfung von sicherheitsrelevanten Präzisionsbauteilen in der Automobilindustrie der Fall. Hier sind maximale Fehlerraten von 1 bis 10 ppm (parts per million) zulässig. ML-basierte Prüfverfahren als Teildisziplinen der industriellen Bildverarbeitung sind von solchen Fehlerraten aktuell noch zu weit entfernt.

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Wer betreibt heute (schon) autonome Produktion?

Laut einer Umfrage des VDI (VDI-Statusreport Künstliche Intelligenz, 2018) kommen für die Analyse von Daten schon heute durchaus KI-Methoden zum Einsatz – diese zeichnen sich aber dadurch aus, dass eine konkrete Schlussfolgerung in der Regel noch durch den Nutzer zu erfolgen hat. Eine direkte Rückkopplung an den Prozess oder an die Anwendung erfolgt meist noch nicht. Generell sind Großunternehmen hier aktiver als KMU und halten auch größere Wachstumsraten, was den Einsatz autonomer Systeme angeht, für wahrscheinlich.

Ein aktuelles Praxisbeispiel für Fortschritte auf dem Weg zur autonomen Produktion bietet Festo. In einem Interview mit Dr. Dagmar Dirzus, Geschäftsführerin der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik schildert Dr. Eckhard Roos, Leiter Industry Segment Management Process Industries bei Festo: „Festo hat eine neue digitale Ventilinsel im Portfolio. Auf einer standardisierten Hardwareplattform können durch die Installation von Apps verschiedenste Funktionen umgesetzt werden, die entsprechende Regeln enthalten. Man kann etwa die Länge eines Arbeitstakts eines pneumatischen Antriebs digital vorgeben, zum Beispiel zwei Sekunden. Das System unterrichtet sich dann selbstständig. Und nach wenigen Lernzyklen – in der Regel vier bis fünf – weiß das System, wie der Aufbau des Druckprofils erfolgen muss, damit die Vorgabe von zwei Sekunden Arbeitstakt erreicht wird. Hierdurch wird die Inbetriebnahme autonom durchgeführt, Drosseln brauchen nicht mehr manuell justiert zu werden. Im Betrieb überwacht das System die Taktzeiten und adaptiert diese eigenständig, falls etwa wegen zunehmender Reibung Veränderungen auftreten. Auch dies passiert autonom und ohne menschlichen Eingriff. Und es wird natürlich ein Trigger für die Wartungsmannschaft wegen der Veränderungen im Prozess ausgelöst. Wenn jetzt noch Roboter die Wartung ausführen würden, wären wir bei der autonomen Fabrik.“

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Welche Rolle wird der Mensch bei der autonomen Produktion spielen?

Eine vollständig autonome Produktion soll ohne das Eingreifen und die Mithilfe von Menschen funktionieren. Demzufolge ist fest damit zu rechnen, dass einige Berufe in den nächsten Jahren durch andere abgelöst werden. Dazu, wie und in welchem Maße das geschehen wird, gibt es unterschiedlichste Prognosen. Generell soll die Automatisierung dem Menschen ermöglichen, sich mit höherwertigen Aufgaben, wie Problemlösung oder Prozessoptimierung, zu befassen. Roboter können dann für geringwertige, repetitive Aufgaben eingesetzt werden. Allerdings wird es auch in Zukunft bestimmte Automatisierungsaufgaben geben, die noch nicht zu lösen sind, sodass Mensch und Maschine zusammenarbeiten müssen.

Mittelfristig wird der Mensch also erst einmal Teil der Produktionsumgebung bleiben – wenn auch zunehmend unter veränderten Vorzeichen: Er wird tendenziell weniger an der Produktion selbst beteiligt sein, sondern sie vielmehr steuern und überwachen. Gerade hier ergeben sich neue und erweiterte Aufgaben für die menschlichen Akteure: Durch den Ansatz des IIoT, bei dem eine durchgehende Vernetzung aller Prozessbeteiligten geschieht, fallen enorme Datenmengen an. Um diese zu strukturieren, zu analysieren und auszuwerten wird gut ausgebildetes Fachpersonal benötigt. Unternehmen sind hier gefordert, die Mitarbeiter regelmäßig fortzubilden, um die Vorteile der Automatisierung voll ausschöpfen zu können.

Weiterhin bleibt der Mensch also Herr des Prozesses und wird den Maschinen Arbeitsanweisungen geben und nicht umgekehrt. Wir können jetzt die Rahmenbedingungen dafür setzen, wie wir in Zukunft arbeiten wollen, denn Industrie 4.0 ist kein fertiges Produkt, sondern ein Gestaltungsprozess. In diesem Zusammenhang gilt es, auch für die ethischen Fragestellungen, die sich aus der Nutzung autonomer Systeme ergeben, einen breiten gesellschaftlichen Konsens herzustellen.